Gender und Diversity in der Verkehrsplanung

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Morgens erst das eine Kind in die Kita, das andere zur Schule bringen. Dann weiter ins Büro. Nachmittags den Einkauf erledigen und auf die Schnelle ein Medikament aus der Apotheke holen, auf dem Heimweg die Mutter im Pflegeheim besuchen, Kinder von Kita und Hort wieder einsammeln. Abends ein Kind zum Handball-Training bringen. 1 Tag, 11 Wege. Ein typischer Tagesablauf einer Frau in Deutschland. 

Frauen und Männer bewegen sich unterschiedlich fort

Die Mobilitätsmuster von Frauen und Männern unterscheiden sich: Frauen unternehmen tendenziell kürzere, aber mehr Wege als Männer. Fast die Hälfte ihrer täglichen Wege legen Frauen zwischen 30 und 39 Jahren für Einkäufe, Erledigungen und Begleitwege zurück. Bei Männern nehmen solche Wege weniger als ein Drittel der täglichen Wegstrecken ein.  

Das ist auch nicht verwunderlich: Trotz schrittweiser Veränderungen in Sachen Gleichstellung leisten Frauen in Deutschland weiterhin einen Großteil der unbezahlten Sorgetätigkeiten, gehen also häufiger einkaufen, pflegen Angehörige, betreuen Kinder, waschen Wäsche, kochen oder putzen. Über vier Stunden täglich verbringen Frauen damit in Deutschland durchschnittlich, fast 90 Minuten mehr pro Tag als Männer. Bei 34-jährigen Frauen und Männern ist dieser sogenannte Gender Care Gap mit fast 3 Stunden täglich am größten. 

In Bezug auf Mobilität bedeutet das vor allem eins: Frauen müssen möglichst effizient und zeitsparend von A nach B kommen. Weil die komplexen Wegeketten sonst gar nicht zu bewältigen sind, nutzen erwerbstätige Mütter besonders häufig das Auto. Zwischen 1976 und 2008 hat sich die PKW-Nutzung von Frauen insgesamt mehr als verdoppelt. Trotzdem fahren Männer weiterhin doppelt so viel mit dem Auto als Frauen. Wenn es nur ein Auto in der Familie gibt, wird es meist vom Mann genutzt. Frauen hingegen nutzen häufiger öffentliche Verkehrsmittel als Männer. Dabei wäre für die meisten Männer der morgendliche Weg zur Arbeit und abends zurück viel einfacher mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu schaffen.  

Wie Diversitätsdimensionen die Mobilitätschancen beeinflussen

Die Wahl des Verkehrsmittels ist auch eine Frage des Geldes. Und Geld ist in Deutschland weiterhin ungleich zwischen den Geschlechtern verteilt. Weil Frauen nach wie vor die Hauptverantwortung für Haushalt und Kinderbetreuung tragen, arbeiten sie häufiger als Männer in Teilzeit. Dadurch haben sie nicht nur generell ein geringeres Einkommen, sie bekommen im Schnitt auch einen geringeren Stundenlohn, als Frauen, die in Vollzeit arbeiten. Alleinerziehende und Frauen über 65 sind besonders armutsgefährdet. 

Dass ältere Frauen in Deutschland ihre Wege häufig zu Fuß zurücklegen liegt also vermutlich nicht allein an einer Vorliebe für Spaziergänge oder einem größeren ökologischen Bewusstsein, sondern an ihren geringeren finanziellen Mitteln. Auch haben ältere Frauen besonders häufig keinen Führerschein: Laut einer genderspezifischen Auswertung von Mobilitätsdaten für den Raum Hannover hatten im Jahr 2002 unter den über 65-Jährigen nur 41 Prozent der Frauen, aber 87 Prozent der Männer eine Fahrerlaubnis. Gleichzeitig sind ältere Menschen häufig in ihrer Mobilität beeinträchtigt: Unter den 60- bis 70-Jährigen gilt das für jede*n Fünfte*n, unter den über 80-Jährigen für etwa die Hälfte.  

Wollen Menschen mit Mobilitätseinschränkungen öffentliche Verkehrsmittel nutzen, müssen sie häufig Umwege oder längere Wartezeiten auf sich nehmen, denn viele Stationen und Fahrzeuge sind nicht barrierefrei zugänglich. Das gilt ebenso für Menschen, die mit einem Kinderwagen unterwegs sind. Geringe finanzielle Ressourcen, hohe Alltagsanforderungenzeitliche Einschränkungen und bauliche Barrieren behindern Menschen an ihrer gleichberechtigten Teilhabe.  

Auch andere Diversitätsdimensionen beeinflussen die Mobilitätschancen: In Deutschland sind Migrant*innen häufiger armutsgefährdet und Menschen, die aus Drittstaaten nach Deutschland eingewandert sind, besitzen oftmals keine gültige Fahrerlaubnis. Doch wer Bus fahren oder den Führerschein machen und Car-Sharing nutzen will, braucht Geld. Neben Geld spielen auch die unterschiedlichen Erfahrungen, die Menschen in der Öffentlichkeit machen, eine Rolle: Viele Schwarze Menschen und People of Color erleben in Deutschland alltäglich Rassismus. Von herabwürdigenden Sprüchen bis hin zu physischer, manchmal tödlicher Gewalt. 

Jede dritte erwachsene Frau in Deutschland erlebt auf der Straße sexuelle Belästigungen. Auch lesbische, schwule, bisexuelle oder trans Menschen und Menschen mit Behinderungen müssen jeden Tag auf dem Weg zum Bäcker oder ins Büro mit Beleidigungen und Gewalt rechnen. 

Angst vor Belästigungen und Gewalt beeinflussen das Sicherheitsgefühl von Menschen: Sie schränken sich in ihrer Mobilität ein, nutzen zu bestimmten Zeiten keine öffentlichen Verkehrsmittel, meiden gewisse U-Bahn-Linien oder nehmen häufiger das Taxi. Das hat Auswirkungen auf ihre soziale Teilhabe, den Zugang zu Arbeitsplätzen und die Möglichkeiten, sich frei von Angst fort zu bewegen. 

Mehr Vielfalt in der Stadt- und Verkehrsplanung

Verkehrsplanung hat einen zentralen Einfluss auf die Mobilität, die Lebensqualität, die Sicherheit und das Wohlergehen von Menschen. Doch bislang werden vielfältige Lebensrealitäten nicht ausreichend berücksichtigt. Stattdessen orientierte sich Stadt- und Verkehrsplanung bis heute an traditionellen Geschlechterrollen: der Familienvater, der nach dem Frühstück das Haus verlässt, um Geld zu verdienen und abends zurück nach Hause kommt.

Und die Hausfrau, die sich um den Haushalt kümmert. Stadt- und Verkehrsplanung orientiert sich und das Haus nur verlässt, wenn sie einkaufen geht oder die Kinder in die Kita bringt. Natürlich sind diese Geschlechterrolle längst überholt und galten nie pauschal für alle Menschen. Doch bis heute prägen diese Vorstellungen, wie Städte und Verkehr geplant werden. 

Ein Grund dafür ist der Gender Data Gap im Verkehrssektor, also die ungleiche Datenlage zum Mobilitätsverhalten von Frauen und Männern und den sich daraus ergebenen Anforderungen an Mobilität. Neben geschlechtsspezifischen Untersuchungen sind auch diversitätssensible Daten, notwendig, die weitere Diskriminierungsmechanismen aufgrund von Herkunft, Rassismus, sexueller Orientierung und Behinderung berücksichtigen. 

Vielfältige Perspektiven fehlen im Transportsektor

Ein anderer Grund sind die fehlenden vielfältigen Perspektiven: In Deutschland gab es noch nie eine Verkehrsministerin, der Anteil von Frauen im Transportsektor in der EU liegt bei nur 22 Prozent, Daten aus Diversity-Perspektive fehlen. Eine inklusive Stadt- und Verkehrsplanung ist geschlechtersensibel und diversitätsorientiert. Diverse Teams in Forschung, Planung und Entwicklung orientieren sich an den Bedürfnissen aller Menschen, ganz besonders derer, die bislang ignoriert und benachteiligt wurden.

Ein gut ausgebauter und leistbarer ÖPNV mit flexiblen Angeboten für unterschiedliche Zielgruppen, barrierefreie Haltestellen und Fahrzeuge, klare und einfache Informationssysteme, kurze Wege sowie sichere und gut beleuchtete Rad- und Fußwege sorgen dafür, dass alle Menschen einen besseren Zugang zu Mobilität haben. Die gute Nachricht ist: Am Ende machen diese Maßnahmen das Leben für alle lebenswerter. 


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Lena Deser

Lena berät und unterstützt Kund*innen bei der Verwirklichung einer diversitätsorientierten, inklusiven Organisationskultur. Sie entwickelt Kommunikationsstrategien und konzipiert und moderiert Workshops. Ein Schwerpunkt liegt dabei auf der Umsetzung von geschlechtergerechter und diskriminierungssensibler Sprache sowie dem Empowerment von Frauen und LGBTQ+ Mitarbeiter*innen.

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